B26 ART FROM LATIN AMERICA

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía. Ausstellungsansicht. Haus der Kunst München, 2025. Foto: Markus Tretter. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Alle Fotos auf dieser Seite – Courtesy Haus der Kunst, München.
Soy Energía
Soy Energía („Ich bin Energie“) ist der Titel der ersten institutionellen Überblicksausstellung der chilenischen Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra (geb. 1967 in Viña del Mar) in Europa. Der Titel ist weniger Selbstzuschreibung als Leitmotiv für ein Œuvre, das Zeichnung, Objekt und Ritual in eine energetische Bildsprache übersetzt. Für Vásquez de la Horra ist „Energie“ keine esoterische Metapher, sondern ein Arbeitsprinzip – eine Schwingung, ein Rhythmus, eine Frequenz –, das sich in Anlehnung an den Zen-Buddhismus als Übung der Aufmerksamkeit und körperlichen Resonanz verstehen lässt.

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía, 2021. Bleistift und Aquarell auf Papier, Wachs. 65 × 50 cm. Foto: Gunter Lepkowski. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Vor diesem Hintergrund rückt in der Ausstellung im Haus der Kunst ihr räumliches, energetisches und kosmologisches Denken in den Mittelpunkt. Die Schau lädt zur Begegnung mit dem spirituellen Kosmos der Künstlerin ein, der Menschen und Natur miteinander in Einklang bringt, und würdigt ihr Engagement für Selbstbestimmung sowie für Frauen- und Menschenrechte.

Sandra Vásquez de la Horra. La máscara, 2023. Bleistift, Aquarell auf Papier, Wachs. 32 x 25 cm. Foto: Gunter Lepkowski. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
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Sandra Vásquez de la Horra. Foto: Ryan Molnar

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía. Ausstellungsansicht. Haus der Kunst München, 2025. Foto: Markus Tretter. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Ihre künstlerischen Anfänge lassen sich auf das Studium der Visuellen Kommunikation (1989–1994) an der Hochschule für Grafikdesign in Viña del Mar zurückführen. Die spielerische Grundierung ihres Œuvres reicht jedoch weiter zurück in ihre Kindheit auf die Finca ihres Großvaters, wo man ihr immer ein Pferd sattelte und sie auf eigene Faust die Hänge der Anden erkundete. Aus diesem autobiografischen Motiv lässt sich eine innere Bildreserve ableiten – eine latente Topografie aus Bewegung, Risiko und Freiheit –, die in Arbeiten wie Volver a ti (2023), Volcánica (2023) oder You My Angel (2024) fortgeschrieben wird und die Künstlerin seit über fünf Jahrzehnten begleitet.

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía. Ausstellungsansicht. Haus der Kunst München, 2025. Foto: Markus Tretter. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Den Ausritten an den Hängen der Anden, die zu ihren glücklichsten Kindheitserinnerungen zählen, steht die Rezession von 1982 unter der Militärdiktatur Augusto Pinochets gegenüber. Sie bildet zusammen mit dem schrittweisen Ende zahlreicher Militärdiktaturen und dem Wiederaufleben demokratischer Ordnungen in Lateinamerika den politischen Hintergrund ihrer Biografie.
Von Chile führte sie der Weg nach Deutschland, wo sie ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf von 1995 bis 2001 bei Jannis Kounellis und bei Rosemarie Trockel fortsetzte. Anschließend absolvierte sie bis 2003 ein Postgraduiertenprogramm an der Kunsthochschule für Medien, Köln.
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Sandra Vásquez de la Horra. Foto: Ryan Molnar

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía. Ausstellungsansicht. Haus der Kunst München, 2025. Foto: Markus Tretter. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Obwohl sie mittlerweile seit 30 Jahren in Deutschland lebt, fühlt sie sich weder in Chile noch in Deutschland verwurzelt, und noch weniger in ihren familiären Ursprüngen in Bolivien und Spanien. Vielmehr versteht sie sich als Nomadin. In Anlehnung an Édouard Glissants Kultur und Identität (2013) ließe sich sagen: Identität speist sich nicht mehr aus einer einzigen Wurzel, sondern entfaltet sich als Netz von Verflechtungen in der Begegnung mit anderen. Bei Vásquez de la Horra offenbart sich die Identität der Künstlerin als bewegtes Gefüge aus Erinnerung, Körper und Mythologie, das sich in ihren Zeichnungen und rituellen Setzungen entfaltet.

Mi visión me lleva a todos lados („Meine Vision bringt mich überall hin“) (2014) zeigt eine in Graphit auf Papier ausgeführte Silhouette einer androgynen Figur, die auf einem überdimensionierten Auge balancierend nach vorne schreitet. Das Auge ist in eine rhombische vulvaähnliche Form eingelassen; diese scheint über einer aus runden, organischen Elementen zusammengesetzten Wolke zu schweben. Die Arme sind in abwehrender Geste nach vorne gestreckt. Eine Spitze des Rhomboids zeigt auf den Unterleib der Gestalt. Die Zeichnung gibt Rätsel auf: Was wehrt die Figur ab? Ist die Spitze eine Bedrohung? Ist das Auge eine Metapher für das innere Sehen oder die Aufmerksamkeit, auf der der Körper „steht“?

Sandra Vásquez de la Horra. Soy Energía. Ausstellungsansicht. Haus der Kunst München, 2025. Foto: Markus Tretter. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Vásquez de la Horra arbeitet überwiegend zeichnerisch – mit Blei- und Farbstift sowie Aquarell auf Papier. Ihre Blätter rufen die Topografien Lateinamerikas auf, ausbrechende Vulkane, stille Meere, reißende Flüsse, und öffnen zugleich ein intimes ikonografisches Feld, in dem geschlechtliche Anatomien auf Sexualität, Reproduktion und Mutterschaft verweisen. Ein prägendes Kennzeichen ihres Œuvres ist die Imprägnierung der Papiere mit Bienenwachs, das die Oberfläche in eine hautartige Membran verwandelt; ein weiteres ist die Einschreibung von Sprache in ausgewählten Zeichnungen – in direkter Anlehnung an den chilenischen Dichter Nicanor Parra. Als Begründer der „Antipoesie“ entmythologisierte Parra seit den 1950er Jahren die Lyrik, brachte Alltagssprache, Ironie und die soziale Gegenwart in den Text und prägte Generationen in Chile und Lateinamerika. In Zeiten politischer Umbrüche wurde Dichtung zur verdichteten Erfahrungsform und zur öffentlichen Gegenstimme. Auf diesen Resonanzraum greift Vásquez de la Horra mit ihren sprachlich markierten Blättern bewusst zurück.


Das geistig-spirituelle Koordinatensystem, das die Künstlerin geschaffen hat, ist ebenso weit wie vielgestaltig, und es trifft auf einen Ort, der genau dafürsteht. Seit seiner Neupositionierung 2022 versteht sich das Haus der Kunst als globaler Resonanzraum für Gegenwartskunst. In enger Zusammenarbeit mit lebenden Künstler*innen wird der kunsthistorische Kanon neu kalibriert und werden eingeübte Stereotypen hinterfragt.
Sandra Vásquez de la Horra wurde mit dem Käthe-Kollwitz-Preis 2023 der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnet und nahm 2022 an der 59. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia (Kuratorin: Cecilia Alemani) teil. Ihre Arbeiten sind u. a. in folgenden Sammlungen vertreten: Centre Pompidou – Musée national d’art moderne, Paris; Denver Art Museum; The Museum of Modern Art (MoMA), New York; Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin und Pinakothek der Moderne, München.
Sandra Vásquez de la Horra. Foto: Ryan Molnar
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Die Ausstellung Soy Energía, kuratiert von Jana Baumann in Zusammenarbeit mit Marlene Mützel, versammelt über 200 Werke und feiert fast vierzig Jahre des Schaffens von Sandra Vásquez de la Horra. ¡Felicitaciones!
Prinzregentenstraße 1
80538 München
Laufzeit: 14. November 2025 – 17. Mai 2026.