Installationsansicht Paloma Ayala, I will grow ears on my hands, arms on my eyes, fingers on my fingers, to glean every nutritious molecule of life, 2022
Foto: Sandra Ellegiers
HIER UND JETZT im Museum Ludwig
Antikoloniale Eingriffe
Das Museum Ludwig setzt sich selbstkritisch in seiner aktuellen Ausstellung HIER UND JETZT. Antikoloniale Eingriffe mit seiner „Erfindung“ Amerikas auseinander, die von einem weitläufigen, über Jahrhunderte tradierten, von Kolonialismus geprägten Amerikabild bestimmt war und ist. Es mussten dreißig Jahre vergehen, bis nach der großen umstrittenen Lateinamerika-Schau im Kolumbusjahr 1992 Künstler:innen aus Lateinamerika in das Haus mit der Sammlung der Schokoladenfabrikanten Peter und Irene Ludwig eingeladen wurden, den Umgang mit und Wissen über Kunst der Region zu beleuchten. Die von Joanne Rodriguez gemeinsam mit den Teilnehmerinnen kuratierte Schau, die Teil einer von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig unterstützten Reihe ist, geht noch einen Schritt weiter. Sie hinterfragt die Funktion des Museums und dem Format von Ausstellung an sich. Und auch: Wer macht die Kunst?
Zu sehen sind in Köln Werke der Künstler:innen Daniela Ortiz (*1985 in Peru), Paula Baeza Pailamilla (*1988 in Chile), Pável Aguilar (*1989 in Honduras) und Paloma Ayala (*1980 in Mexiko).
Pável Aguilar, Güira Aguilar..., 2022
Eine Güira ist ein Musikinstrument, das einen Rhythmus verstärkt. Sie ist charakteristisch für volkstümliche und indigene Tänze und Musikstile in Lateinamerika und der Karibik. Insgesamt neun Güiras sind als antikoloniale Eingriffe im Museum verteilt. Jedes Instrument ist mit dem Namen einer Person beschriftet, die für das Museum Ludwig eine besondere Rolle spielt.
Foto: Sandra Ellegiers
Joanna Rodriguez hat sich intensiv mit der Sammlung, dem Haus und den Ausstellungen in Deutschland beschäftigt. „Da sind mir unterschiedliche Dinge aufgefallen. Zum Einen der Umgang mit Kunst aus Lateinamerika ist wirklich spannend, aber auch sehr schwierig, weil meistens eine Art Dialog zwischen europäischen und lateinamerikanischen Künstler:innen hergestellt wird, der nicht richtig funktioniert“, erklärt sie im Gespräch mit B26. Oft würden Künstler:innen eingeladen, „die sich sehr nah am europäischen Kanon bewegen.“ Rodriguez spricht von einer „großen Lücke“.
Insbesondere eine Ausstellung im Museum Ludwig vor 30 Jahren „Lateinamerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“, spiegele die Problematik wider. Es werde gleich zu Beginn von „Europas Entdeckungen“ gesprochen: „Das Wording ist natürlich schon mal komplett falsch“, denn das Wort Entdeckung drückt ein Machtverhältnis aus und, „dass man den Anspruch hat, einen ganzen Kontinent in einer Ausstellung abzubilden“, so Rodriguez, es seien außerdem „recht weiße Kurator:innen, die sie verantworteten.“ Allein der Ausgangspunkt sei fraglich, da es sich um eine Wanderausstellung handelte, die 1992 zum Kolumbusjahr begonnen habe, zu den Feierlichkeiten der „500 Jahre Entdeckungen“, und 1993 nach Köln gekommen ist. Hinzu kam 1999 eine von Gaugin ausgehende, den Primitivismus beleuchtende Ausstellung, die aus heutiger Sicht einen falschen Umgang mit Kunst erkennen lässt. Wenn auch die Sichtbarkeit und Erweiterung des Kanons begrüßenswert seien, weil dadurch auch Ankäufe erfolgten, sei „so eine Repräsentationsweise“ schwierig, erklärt die Kuratorin, „wenn sie nicht von den Künstlerinnen selbst oder Kurator:innen, die vielleicht auch aus Lateinamerika kommen“ ausgehe.
Die Ausstellung „Kunst und Schokolade“ 2004 war ein weiterer Grund für Rodriguez, „eine Art epistemische De-Kolonialisierung, also die De-Kolonialisierung von Wissen und Wissensgenerierung ins Blickfeld des Museums zu rücken, um weiter diskriminierungskritische oder rassismuskritische bzw. antirassistische Strukturen zu etablieren.“
"Das Akkordeon wurde in Deutschland geboren, und zum Plaudern wurde es hier an der Küste geboren.
Deshalb sagen wir , dass es sich um kolumbianische Musik handelt, und es ist auch kolumbianisch, mit der Person zu sprechen, die sie spielt."
Pável Aguilar, Antikoloniale Akkordeons, 2022
Die Geschichte und Popularität des Akkordeons in Lateinamerika ist ein Produkt der Migration und der kulturellen Interaktion. Erfunden in Deutschland und im 19. Jahrhundert in Europa verbreitet, brachten Migrant:innen die Instrumente nach Lateinamerika, wo sie seither an der Verschmelzung und Erfindung zahlreicher musikalischer Rhythmen beteiligt sind. Dies zeigt Pavel Aguilar auch in einem Video, in dem das Akkordeon hörbar wird. Auf spielerische
Art und Weise verdeutlichen die Instrumente, wie wichtig antikoloniales Handeln ist.
Eine neue Ausrichtung des Museums?
Das Museum widmet sich immer wieder diesen Themen und Fragestellungen und nimmt eine Neubewertung der amerikanischen Bestände vor. Seit Yilmaz Dziewor 2015 Direktor ist, treibt er die Kanon-Öffnung voran. Er will die Geschichte nicht neuschreiben, aber „eine parallele Erzählung“, sagt er 2018 der Süddeutschen Zeitung in „Museen in Deutschland, Agenten einer neuen Zeit“. Die Reihe HIER UND JETZT ist folglich experimenteller, bricht bestimmte Praktiken des Museums und der Ausstellungspraxis auf.
Die Kuratorin von Antikoloniale Eingriffe Rodriguez merkt an, dass dies durchaus nicht so leicht zu bewerkstelligen ist: „Man möchte eine Vielstimmigkeit erzeugen, grenzt gleichzeitig jedoch aus. Viele Menschen haben den Anspruch, einen Gesamtüberblick zu haben und dann werden andere Menschen aus dem globalen Süden ausgegrenzt. Dennoch ist es gut, in kleinen Schritten den Fokus unterschiedlich zu setzen.“
Kritische Fragen zur Sammlung, zu was es bedeutet zu sammeln – das gefällt natürlich auch nicht allen. Auch nicht, dass grundsätzlich die Institution des Museums und seine Funktion als solches hinterfragt wird. Die Öffnung gestaltet sich schwierig und scheint ein langer Prozess zu sein. „Es fällt auf, dass in der Lokalpresse rassistische Wörter verwendet werden“, beschreibt Rodriguez eine der Schwierigkeiten, und auch innerhalb des Museums „gibt es irgendwo Widerstände und muss Aufklärungsarbeit gemacht werden.“
Aufklärungsarbeit erfolgt in der Ausstellung auch mittels eines Glossars. Es handelt sich um eine Art Arbeitsinstrument, das mit der Erklärung von Begriffen wie Exotismus, Rassismus und Kolonialismus dazu beiträgt, zu sensibilisieren, die Wahrnehmung zu schulen, dass die ausgestellte Kunst verständlicher wird. Es muss aber nicht verwendet werden. Die ausgestellten Werke können auch über einen „sehr sinnlichen Zugang“ erfahren werden, stellt die Kuratorin klar.
Antikoloniale Eingriffe als Ausdruck einer aktivistischen Haltung
Die Künstler:innen haben mit Rodriguez den Prozess bis zur Ausstellung von Anfang bis Ende gemeinsam bestritten. Sie haben über 70000 Werke sowie Ausstellungskataloge beleuchtet und durchforstet. So konnten sie sich selbst überlegen, wo sie eingreifen möchten oder müssen. Gemeinsam erfolgte die Auswahl des Titels, ausgehend von einer aktivistischen Perspektive.
Für Daniela Ortiz ist das Antikoloniale essenziell. In ihrem Beitrag schafft sie eine visuelle Parallele zwischen Max Ernst Gemälde „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Eluard und dem Maler“ (1926) und dem Tod des neunjährigen Geflüchteten Jesús Ánder (2020) in einer staatlichen Unterkunft in Pamplona, Spanien. Der Tod des Kindes wurde offiziell als Suizid bezeichnet, geschah aber in der Obhut einer öffentlichen Einrichtung. In weiteren ausgestellten Werken greift Ortiz Elemente der christlichen Ikonographie auf und setzt die Erzählung des Gemäldes von Max Ernst fort. Hier kritisiert sie den „weißen“ Feminismus, Verbündete des Patriarchats. Darin wird eine aktivistische Haltung deutlich, die notwendig ist, um alte Muster zu durchbrechen. Widerstand gegen koloniale Systeme tritt zum Vorschein. Die Künstler:innen der Ausstellung leisten ihn alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise, indem sie anklagen, Fragen stellen oder eher eine Art poetischen Widerstand wählen.
Paula Baeza Pailamilla zeigt sich selbst in einer Choreografie, die auf drei Screens in einem Raum projiziert wird. „Fundición“ (2022) nimmt direkten Bezug zur Schokolade. Es ist ein Produkt, das deutlich die Verstrickungen Europas mit seiner kolonialen Vergangenheit widerspiegelt. Die Ausbeutung durch europäische Kolonialmächte wird hier mittels der Aneinanderreihung gewohnter Erzählstränge, textlich wie bildlich, kritisiert.
In der Installation sind „historische Tastachen“ in monotoner, sachlicher Stimme zu hören. Zu sehen sind neben exotisierenden Werbebildern Rohstoffbeschaffung, Herstellungsprozesse und luxuriöse Verkaufsorte. Es werden echte und vermeintliche Fakten beschrieben, die uns allen geläufig sind und die gleichzeitig, angesichts der sich vor europäischen architektonischen Hintergründen bewegenden und mit diesen sich verschmelzenden Frau sinnlos bzw. sinnentleert erscheinen. Wenn in etwa die Rede davon ist, dass in der Schweiz Schokolade zum Verkaufsrenner wurde und bis über seine Grenzen hinaus in Amerika bekannt wurde. Oder, dass Schokolade für Ausschüttung des Glückhormons sorgt.
Stils Videoinstallation Paula Baez Pailamilla, Fundición, 2022
Der Titel Fundición (Schmelze) bezieht sich unter anderem auf den Anspruch von Lindt & Sprüngli, das
Conchieren erfunden zu haben, eine Methode, um Schoko-lade besonders cremig zu machen. Die Arbeit wird durch eine Performance vor Minerva Cuevas’ großforma-igem Relief The Enterprise (2021) im Treppenhaus des Museum Ludwig erweitert. Siehe Bild unten.
Eine Performance vor Minerva Cuevas großformatigen Relief The Enterprise (2021) im Treppenhaus des Museum Ludwig mit Schokolade bzw. Kakao erweitert die Installation. Die unterschiedlichen Werke des Ausstellungsprojektes sind im Haus verteilt, greifen somit an unterschiedlichen Stellen ein und stellen sie sich selbst in einen Dialog mit der Sammlung. Ratifizierende Bildtitel und Stereotypisierungen, der ganze Hintergrund des Museums werden problematisiert. „Durch diese Dialogizität, die irgendwo eine Widerstandspraxis ist, findet eine Kanon-Öffnung statt“, erklärt Rodriguez. Eine Befüllung der Räume mit Kunst aus Lateinamerika hätte dies ihrer Meinung nicht leisten können.
„Lateinamerika ist ein riesengroßer Kontinent. Die Kunst lässt sich nicht eingrenzen. Wir haben auch nicht den Anspruch jetzt hier in der Ausstellung lateinamerikanische Kunst zu zeigen, weil das komplett verrückt wäre. Das geht nicht“, stellt sie heraus, „bestimmte Dinge müssen auch immer wieder neu verhandelt werden, weil wir uns an unterschiedlichen Schwellen bewegen wie dieser, wie mit diesem Begriff (lateinamerikanische Kunst/Kunst aus Lateinamerika) umgegangen werden kann. Auf der einen Seite ist es eigentlich egal, dass die Künstler:innen aus Lateinamerika kommen, weil die Kunst für sich steht. Auf der anderen Seite ist für die Ausstellung aber auch wichtig, wie sie für das Publikum greifbar gemacht wird“, weshalb das Museum Vermittlungsarbeit leistet.
So bietet das Museum unterschiedliche Zugänge an. In ihrem Workshopraum fordert Paloma Ayala Besucher:innen dazu auf, selbst in die Sammlung einzugreifen, sie zu verändern und mit ihr zu interagieren. Die einzelnen Tonfiguren stellen Details aus Werken der Sammlung oder aus vergangenen Ausstellungen des Museum Ludwigs dar. Durch die Präsentation und die Einladung zur Teilnahme stellt die Künstlerin die Sammlung, den Kunstkanon und gewohnte Wissenstraditionen zur Debatte. Werkzeuge, Handlungsanleitungen und Fragen zeigen wie Tonfiguren geschaffen und bearbeitet werden können.
„Was bei Kindern wichtig ist, ist der sinnliche Zugang. Dann muss man auch erstmal keine Frage stellen, sondern kann einfach spüren lassen: Oh ich bin hier im Museum ich kann hier jetzt Ton nehmen und damit arbeiten (… ) Dieses Sinnliche wirkt sich dann auf das Bewusstsein aus. Der Gedanke des Künstlers, der am Rande der Gesellschaft ist und beobachtet, fällt komplett weg. Wir sind alle Teil dieses Ganzen. Da könnte man sagen, das ist ein starker Einfluss aus Lateinamerika, wo Kunsthandwerk und Kunst ineinanderfließen.“
Auch wenn gerade in Lateinamerika Museen oftmals den Kanon reproduzieren oder auch oftmals der Gedanke der Elite extremer ist, verdeutlicht die Arbeit mit Ton, „wie wir uns das Museum als auch die Kunst aneignen müssen. Es ist schon ein Teil von uns, ohne dass wir es wissen.“ Paloma Ayala ist es wichtig, dass ihr Werk nicht gesammelt werden kann. Dadurch spricht sie das Thema Nachhaltigkeit und die damit verknüpfte soziale Nachhaltigkeit an. Gleichzeitig widersetzt sie sich dem europäischen Kunstmarkt und dem Sammeln. Die Künstlerin, die sowohl in Mexiko als auch in der Schweiz lebt, beschäftigt sich mit ökologischen Themen und auch damit, wie Kunst aus unterschiedlichen natürlichen Materialien geschaffen werden kann. Oft werde dies „gerade aus dem europäischen Kontext heraus nicht als Kunst gesehen“.
Mit ihrer Installation stellt Ayala auch die Frage, was es für sie bedeutet als Künstlerin aus Mexiko in einem europäischen Kontext Kunst zu machen und auszustellen.“ Sie wählt bewusst die Schaffung eines anderen Wissenszugang in einem schönen Raum, nimmt explizit Bezug auf Werke der Sammlung und leitet ihres daraus ab.